Eigentlich haben Irene und ich an diesem Sonntag ein anderes Ziel auf dem Radar, aber der starke Regen macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir entschließen uns spontan dazu, einen Schlag gegen die Kleine Scheuer zu führen. Einen Vermessungs-, keinen Vernichtungsschlag. Im strömenden Regen und dichten Nebel schreiten wir vom Rosensteinparkplatz zur Höhle. Diese ist trotz des Niederschlags staubtrocken, so trocken, dass unsere sorgsam abgestellten, nassen Regenschirme augenblicklich mit einer dicken Schmutzschicht überzogen werden. Sofort heißt es „Geräte aus dem Sack“ und wir beginnen mit der kartografischen Neuerfassung des Hohlraums. Pläne gibt es von der Kleinen Scheuer eigentlich mehr als genug, u.a. auch einen von mir von 1988. Aber man kann alles besser machen, also neue Vermessung, neuer Plan. Zumindest bilde ich mir das an jenem Morgen ein, die bittere Wahrheit lerne ich erst später…
Ich habe nach längerer Abstinenz den Silva-Peilkompass dabei, ergänzt mit dem verdienten Laser-Peilomaten von Bosch, mit dem die Längen und Neigungen gemessen werden. Wie üblich, wird jede Strecke zweimal gemessen; einmal vom Standpunkt zum Zielpunkt und einmal zurück. Damit können Mess- oder Protokollierungsfehler erkannt werden. Schon nach den ersten Peilungen wundere ich mich, warum die Skala des Kompasses ewig braucht, bis sie zur Ruhe kommt, denke mir aber zunächst nichts böses dabei. Wir messen einmal quer am Eingang von der linken zur rechten Wand, dann zu dem kleineren Felsblock vor dem Aufstieg in den hinteren Höhlenteil, hoch über den großen Felsen, in dem anschließenden phreatischen Gang an die rechte Wand und zu der Sinterwand am Höhlenende. Ich zeichne die Messdaten aufs Papier und dann nehmen wir die Raummaße für den Grundriss und den Längsschnitt auf. Das ist der langwierigste Teil der Höhlenvermessung, bei dem man sich nur wenig bewegt und langsam vorwärts kommt, so dass unweigerlich die Kälte in die Knochen kriecht. Keine besonderen Vorkommnisse, außer dass mir mein Bleistiftspitzer abhanden kommt, der mir mehr als 30 Jahre treue Dienste in so mancher Höhle geleistet hat. Wahrscheinlich wird er in 10.000 Jahren von Archäologen gefunden, die ihn dann als Beweis für verloren gegangene Höhlenkunst in der Kleinen Scheuer betrachten.
Am Nachmittag sitze ich mit Speis‘ und Trank gestärkt und frisch geduscht am Rechner und hacke die Daten in Compass. Das Programm ist so eingestellt, dass es die Werte der oben genannten Hin- und Rückpeilungen miteinander vergleicht und Alarm schlägt, wenn die Differenz einen festgelegten Schwellenwert überschreitet. Die Längen und Neigungen sind kein Problem; der Fehler bei der Neigung überschreitet nie ein Grad. Auch der prozentuale Fehler der Länge beträgt im Schnitt 0,39% und bleibt immer unter einem Prozent. Aber die Azimute! Selbst bei nahezu waagrechten Strecken betragen die Fehler über 20°. Ein Gefühl der Schande beschleicht mich. Wie konnte das passieren? Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen und das beinahe wörtlich. Meine neue Brille! Ein kurzer Test mit dem hervorgeholten Kompass zeigt: Das verd… Ding ist magnetisch! Wenn ich das Brillengestell am Kompass vorbei führe, lässt sich die Skala kräftig auslenken. Reingelegt worden wie ein blutiger Anfänger. Das schreit nach Revanche.
Der Tag der Abrechnung
Der Tag der Vergeltung folgt am 24.06.2020. Irene und ich sind nochmals in der Kleinen Scheuer, um die Richtungswerte neu aufzunehmen. Diesmal trage ich meine alte, nicht magnetische Brille. Und siehe da, diesmal sind die Kompasswerte alle in Ordnung und weisen nur die übliche Streuung auf. Außerdem erfassen wir zusätzliche Daten für Gangprofile. Der Bleistiftspitzer bleibt verschollen.