Karstsamstagsprozession

Ungefähr 2000 Jahre, nachdem ein bekennender Prophet unerquickliche Bekanntschaft mit Dornengestrüpp, Nägeln und Holz geschlossen hat, beschließen auch wir, in dunklen Katakomben schmerzhafte Rituale zu zelebrieren. Als Ort unserer Selbstkasteiung erwählen wir die Lindachhöhle –  eine der letzten größeren Höhlen auf der Ostalb, in der wir noch nicht waren. Zumindest nicht richtig. Anfang des Jahrtausends war ich mit Kumpel Michael schon mal hier, wir mussten jedoch an einem Schacht in Ermangelung von Befestigungsmaterial umkehren. Heute treffen sich die Jünger Bernhard, Markus, Rudi und ich am Rande des alten Steinbruchs bei Heidenheim. Es beginnt gut: Mussten Micha und ich damals noch über einen Zaun klettern und uns durch Unterholz kämpfen, ist der Steinbruch nun Teil eines geologischen Lehrpfads und problemlos zugänglich. Auf dem Eingangsverbau der Höhle liegt ein Kanaldeckel, der jedoch nicht verschlossen ist. Nachdem wir ihn abgehoben haben, sehen wir ein Schild, das sagt, dass Befahrungen der Höhle bis zum 15. April verboten sind. Na zum Glück sind wir schon über dieses Datum hinaus.

Wir schlazen und gurten uns an und Seile, Bohrmaschine und Fotozeugs finden in Schleifsäcken Platz. Im Eingangsverbau geht es etwas mehr als mannstief abwärts und durch eine mehrere Meter lange Betonröhre bergeinwärts.

Guckst du in die Röhre, was?
Guckst du in die Röhre, was?

Wir stehen nun in einer öden, stark verbrochenen Halle. Es geht über Blockwerk aufwärts, bis wir an einem fast runden Schacht stehen. In den habe ich mich damals abgeseilt, es geht dort nicht weiter. Michael kletterte seinerzeit lebensmüde ohne Sicherung über den Schacht hinweg in einen Schluf, in dem es aber auch nicht weiter geht. Stattdessen findet sich die Fortsetzung rechts neben dem Schacht, gut verborgen hinter einer kulissenartig vorstehenden Felsnase. Hier stecken nun zwei ziemlich neu aussehende Schwerlastanker mit Laschen, die wir als Rückversicherung für den weiteren Vorstoß nutzen.

Wir traversieren den Schacht also rechts, es geht leicht aufwärts und die Spalte geht in einen Schluf über. Nach ein paar Metern verwandelt sich der in einen schmalen Canyon. Rudi wird von Bernhard per Halbmastwurf gesichert und spreizt die paar Meter bis zum Ende der Schlucht. Dort führt ein kleiner Schacht abwärts. Rudi findet eine Seilbefestigung und sein bisheriges Sicherungsseil wird nun als Seilgeländer eingebaut. Bernhard und ich können die Spalte jetzt auch bequem und sicher überqueren. Markus fühlt sich nicht fit und bleibt zurück.

Rudi zückt den Bohrhammer und setzt zwei 8er Schwerlastanker, die als Befestigung für unser nächstes Seil dienen. Leider ist der Platz zwischen Canyon und nächstem Schacht begrenzt und so fällt prompt der Schleifsack mit dem Bohrhammer in den Canyon. Zum Glück nicht bis ganz nach unten, sondern er bleibt am Rande eines Absatzes liegen. Während Rudi in den Schacht abseilt, klettere ich in den Canyon hinunter und berge den ollen Sack (den Schleifsack, nicht Rudi).

Bernhard und ich petzln dann auch in den Schacht. Dieser ist sehr schmal und vielleicht 4 m tief. Eigentlich handelt es sich mehr um einen Canyon, der jenen vor der Abseilstrecke verlängert und wir stehen nun auf auf einem tieferen Level auf einem Zwischenboden aus Lehm und Versturzblöcken. Unter diesem Pfropfen geht die Spalte weiter in die Tiefe, ist jedoch unbefahrbar eng. Wir haben auf diesem Zwischenboden zu Dritt mit Gepäck so gerade eben Platz. Unser Standplatz wird von einem Quergang gekreuzt. Nach links nur ein kurzer, im Lehm endender Schluf. Rechts jedoch ein sehr schön ausgewaschenes Gangfenster, hinter dem der Boden trichterförmig in die Tiefe kippt. Im rechten Teil des Gangfensters steht eine solide Felssäule, um die wir unser letztes Seil binden. Außerdem ist dort eine alte, etwa 4 mm starke Reepschnur festgezurrt – es sieht fast so aus, als ob sich unsere Vorgänger daran abgeseilt haben!

Bernhard seilt als Erster ab und stellt erleichtert fest, dass unser Seil bis zum Boden reicht. Ich folge und Rudi bildet das Schlusslicht. Es geht, wie gesagt, trichterartig nach unten, dann ein kurzes Stück senkrecht, bevor man auf der schrägen Hallenwand wie auf Treppenstufen (bedingt wohl durch die Schichtung des Gesteins) abwärts laufen kann.

Abseilen in die "Trichterhalle" fast am Ende der Lindachhöhle.
Abseilen in die „Trichterhalle“ fast am Ende der Lindachhöhle.

Unten geht ein sehr verlehmtes Loch schräg weiter abwärts, das wir aber ignorieren. Laut Beschreibung sind das eh nur noch ein paar Meter bis zum Ende. Stattdessen schauen wir uns auf der anderen Seite der Trichterhalle um. Direkt am Boden ist ein Loch, das zwei Meter höher mit einem anderen Loch in der Hallenwand verbunden ist. Dahinter geht ein kurzer Gang ab, in den von oben ein Seil herunter hängt. Bernhard und ich klettern in ihn hinein und die Felswand beim Seil hinauf. Oben ist wieder eine Halle und das Seil führt über eine glatte Felswand noch geschätzt drei Meter weiter aufwärts. Nach langem Überlegen, ob ich dem Seil vertrauen soll, hänge ich doch meine Klemmen ein und steige vorsichtig auf. Oben schwinge ich mich über eine Art Felsbalustrade, die mich in eine kesselartige, schwer verlehmte Halle leitet. Zum Glück sehe ich jetzt erst die Seilbefestigung: Einen rostigen, nicht ganz geschlossenen Karabiner. Ein kurzer Gang führt aufwärts in eine kleine Halle, in die drei mit Lehm verschlossene Gänge einmünden. Durch die Schwerkraft ist der Lehm aus den Seitengängen wie ein „Lehmgletscher“ in die Halle hinein geflossen.

Ich seile mich behutsam wieder ab und gemeinsam klettern wir die letzten paar Meter wieder hinunter. Nun folgen wir einem anderen Gang, in den ebenfalls ein Seil von oben herunter hängt. Diesmal kommt es aus einem Kamin. Ich klettere wieder hoch und lasse meine Bruststeigklemme auf dem Seil als Sicherung mitlaufen. Eigentlich will ich wieder umkehren, habe aber versehentlich die Klemme belastet und bekomme sie nicht mehr auf. Die enormen Mengen Lehm im unteren Höhlenteil haben die Klemme in einen Lehmklumpen verwandelt, den ich einfach nicht zu fassen bekomme. Das heißt, ich muss weiter bis zu einem Absatz klettern, wo ich das Ding endlich entlasten und öffnen kann. Der Kamin wird übrigens sehr eng und ich denke, er geht nicht weiter.

Etwas später sind wir wieder bei Rudi in der Trichterhalle und beginnen mit dem Aufstieg. Schließlich wartet Markus auf uns. Leider ist einer meiner Kameraden mehr wie ein Bergsteiger als wie ein Schachtbefahrer ausgerüstet und er hat massive Probleme mit dem Einbinden seiner Klemmen in seinen Gurt. Nach mehreren Anläufen und mit viel Kraftverlust schafft er es nach oben in den unteren Canyon. Auch wir SRT-ausgestatten Höfos haben „Spaß“ mit den am dreckigen Seil durchrutschenden Steigklemmen, deren Schnapper immer wieder von Hand fest gedrückt werden müssen, bevor sie halten.

Ein Kamerad steigt im nächsten Schacht auf, ohne Probleme zu haben. Dann wieder der mit Alpintechnik gerüstete Höfo. Er hat große Schwierigkeiten und kommt mit seiner Klemmentechnik nicht zu Rande. Auch der Einsatz von kurzen Strickleitern hilft nicht und einmal saust er mit Schmackes auf den Schachtboden herunter. Zum Glück zieht er sich nur Prellungen und Abschürfungen zu. Trotzdem wird die Sache langsam ziemlich ernst, zumal der Kamerad rasch Kraft verliert. Der bereits aufgestiegene Kamerad geht über den ersten Canyon hinweg vor zum Eingang der Höhle, wo er sich Markus‘ Schachtausrüstung ausleiht. Diese wird zum festsitzenden Kameraden hinunter gelassen. Der andere Höfo, der noch mit ihm unten ist, hilft im beim Anlegen der Ausrüstung. Siehe da: Kaum hat man das richtige Material und schon gehts. Nach insgesamt zwei Stunden Kampf sind wir oben im Canyon. Wir bauen Seile und Karabiner aus und ziehen uns langsam aber routiniert aus dem Loch zurück.

Eigentlich habe ich für die Befahrung etwa vier Stunden angesetzt. Am Eingang bin ich baff, dass es schon tiefe Nacht ist – wir haben aufgrund der Probleme fast sieben Stunden gebraucht.

Wir rennen zum Auto, reißen die Handys aus dem Versteck und teilen den panischen Ehefrauen mit, dass alle noch leben und wir bald wieder Zuhause sein werden. Ausschlazen und am nächsten Tag eine mehrstündige Reinigung der Ausrüstung sind angesagt.

Wie sagt schon der Zellenkumpel in „Das Leben des Brian“: Bei einer Kreuzigung ist man wenigstens an der frischen Luft!