Tom Sawyers Höhlenabenteuer

Wer hat es nicht mehr im Gedächtnis, das Jugendbuch „Tom Sawyers Abenteuer“ des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain? Hier hast Du die Gelegenheit, Deine Erinnerung aufzufrischen! Was das soll, ein Artikel über ein Jugendbuch in einer renommierten Höhlenzeitschrift, wirst Du vielleicht fragen, falls Du das Buch noch nie gelesen hast. Nun, lasse Dich überraschen!

Anläßlich eines von der Familie Thatcher veranstalteten Picknicks, besucht Tom Sawyer, ebenso wie die anderen Jungen und Mädchen aus der Stadt, die an dem Picknick teilnahmen, eine ausgedehnte Höhle. Wohl eine halbe Stunde konnte man durch den bekannten Teil der Höhle streifen, ohne auf jemanden anderen zu treffen, dennoch stieß man, aus den Nebengängen kommend, immer wieder auf die Hauptgruppe, die lärmend und fröhlich, mit Kerzen in der Hand, durch die Höhle zog. Tom, der ein Auge auf Becky Thatcher geworfen hat, sondert sich mit ihr etwas von den anderen ab…

„Tom und Becky waren durch die finsteren Gänge gewandert und hatten die bekannten Wunder der Höhle betrachtet, die Kathedrale, Aladins Palast, und so weiter. Daraufhin waren sie eine enge gewundene Felsgasse hinunterspaziert und hatten mit hochgehaltenen Kerzen die halb von Spinnweben verdeckten Namen, Daten und Sinnsprüche entziffert. Schließlich merkten sie, dass sie sich in einem Teil der Höhle befanden, dessen Wände keine Inschriften mehr aufwiesen. Da schrieben sie ihre eigenen Namen mit Kerzenruß unter einen Felsvorsprung und spazierten weiter. Bald darauf erreichten sie eine Quelle, deren Wasser so viel Kalk mit sich führte, dass im Laufe der Jahrhunderte sich ein kleiner Niagarafall aus weißem Tropfstein gebildet hatte. Tom zwängte seinen Körper hinter den Tropfstein, um den Wasserfall von hinten zu beleuchten. Dabei fand er heraus, dass von hier aus eine natürliche Treppe in die Tiefe führte. Sofort ergriff ihn das Entdeckerfieber. Auch Becky war gleich Feuer und Flamme. Zur Vorsicht machten sie ein Rußzeichen an die Wand, und traten dann ihre Forschungsreise an. Sie verfolgten diesen Weg bis in die tiefsten Abgründe der Höhle, brachten noch mehrere solcher Zeichen an und waren von dem Wunsche beseelt, Dinge zu entdecken, mit denen sie die Leute in der Oberwelt verblüffen konnten. Irgendwo stießen sie auf eine große Höhle, von deren Wölbung eine Unzahl in allen Farben schimmernder Tropfsteine herunterhingen. Staunend sahen sie sich um und verließen sie dann durch einen engen Gang. Der führte zu einem Springbrunnen, dessen Becken mit einer Schicht phantastisch geformter Kristalle bedeckt war. Er befand sich in der Mitte eines hallenartigen Raumes, dessen Wände von einer Reihe schlanker Tropfsteinsäulen gebildet wurde. Ganze Klumpen Fledermäuse klebten unter der Wölbung. Es mussten Tausende von diesen Tieren sein. Von den Lichtern erschreckt, flatterten sie quickend herunter und stürzten sich auf die Flammen zu. Sofort erkannte Tom die Gefahr. Er zog Becky in den ersten sich auftuenden Gang. Keine Sekunde zu früh! Eine Fledermaus hatte schon mit ihrem Flügel Beckys Licht ausgelöscht. Noch eine kurze Strecke verfolgten die Tiere die beiden, aber Becky und Tom stürzten sich sofort in jeden Gang, der abzweigte, und entgingen so der gefährlichen Situation.“

Bald darauf entdeckte Tom einen unterirdischen See, der anscheinend abgrundtief war. Er wollte ihn umwandern, überlegte aber, dass es wohl besser sei, wenn man sich erst ein wenig ausruhe. Jetzt, da die tiefe Stille sich wie ein Tuch über sie legte, griff zum ersten Mal Angst nach dem Herzen der Kinder. Um nicht wieder an den Fledermäusen vorbei zu müssen, beschließen sie einen anderen Weg zu suchen. Dabei verlaufen sie sich dann völlig, und schließlich wird auch Becky klar, dass Toms Zuversicht, den richtigen Weg doch noch zu finden, eigentlich nur gespielt ist.

„Wir sind verloren, Tom. Nie wieder finden wir aus dieser Höhle ´raus! Warum sind wir nur nicht bei den anderen geblieben!‘ Und sie setzte sich auf den Boden und weinte herzzerreißend. Tom schien es, sie könnte den Verstand verlieren. Tröstend setzte er sich neben sie, legte seinen Arm um sie und zog ihr Gesicht an seine Brust, und sie weinte sich aus. Selbst das Weinen gab das Echo zurück, und es klang wie höhnisches Gelächter. Tom bettelte, sie solle doch wieder Mut fassen. Und als sie sagte, das könne sie nicht, fing er an, sich selber anzuklagen, dass er sie in diese fürchterliche Lage gebracht habe. Da sie das hörte, versprach sie, wieder Hoffnung zu fassen. Sie wolle ihm folgen, wohin immer er sie führte … So wanderten sie also ziellos weiter. Was blieb ihnen auch anderes übrig?“

Nach einer Pause, in der Becky ein wenig schlief, und weiterem langen, ziellosen Umherwandern, kommen sie schließlich an eine Quelle, wo sie abermals rasten. Sie essen das Stück Kuchen, das sich Tom beim Picknick eingesteckt hat. Da Becky so gestärkt, nun mit frischem Mut weiter nach einem Ausgang suchen will, eröffnet ihr Tom, dass ihr Vorrat an Kerzen zu Ende gegangen ist.

„Still und nachdenklich saßen sie da. Sie beobachteten den Rest der Kerze, der erbarmungslos kleiner wurde. Schließlich war nur noch ein Zentimeter Docht übrig. Die Flamme wurde kleiner und kleiner, und dann stieg ein kleiner Rauchfaden empor. Das Licht war erloschen. Tiefe Finsternis breitete sich aus.“

„Stunde um Stunde verrann. Wieder stellte sich quälender Hunger ein. Tom teilte den Rest seines Stückchens vom Kuchen, und sie aßen. Sie wurden aber nicht satt, schienen vielmehr hungriger zu werden. Plötzlich rief Tom: ‚Du, Becky, hörst Du nichts?‘ Mit angehaltenem Atem lauschten beide. Ein Ruf drang von weither an ihr Ohr. Tom antwortete sofort und lief dem Laut entgegen, Becky hinter sich herziehend. Sie blieben stehen und lauschten wieder. Und wieder hörten sie den Ton und waren ihm anscheinend näher gekommen. ‚Sie kommen!‘ jubelte Tom. ‚Jetzt wird alles gut‘. Die Freude überwältigte sie fast. Indessen wurde das Vorwärtskommen immer schwieriger, weil es zahlreiche Risse und Spalten im Boden gab. Bald mussten sie anhalten. Ein unüberwindlicher Spalt tat sich vor ihnen auf“.

Tom konnte in der Dunkelheit nicht erfühlen, wie breit und tief er war. So warteten sie eine Weile, aber als sich die Rufe nicht wiederholten, tasteten sie sich entmutigt zur Quelle zurück.

„Die Untätigkeit lastete furchtbar auf Ihnen. Da kam Tom der Gedanke, es sei doch immerhin besser, einige Seitengänge zu untersuchen, als mutlos herumzusitzen. In der Tasche hatte er noch eine Drachenleine. Die befestigte er an einer Felsnase und tastete sich behutsam vorwärts, wobei sich die Leine allmählich abwickelte. Er war noch keine zwanzig Schritte gegangen, als der Gang steil nach unten abfiel. Er versuchte, so weit wie möglich mit der Hand um den Felsen herumzukommen. Da sah er, keine zwanzig Meter entfernt, eine menschliche Hand, die ein Licht hielt. Er stieß ein Triumphgeschrei aus. Als er aber das Gesicht des Menschen sah, erstarrte er. Es war der Indianer-Joe.“ (Wir erinnern uns: Tom hatte die Untaten des Indianer-Joe damals beobachtet, und überraschend vor Gericht gegen ihn ausgesagt. Nur durch einen beherzten Sprung aus dem Fenster war der Bösewicht der gerechten Strafe entgangen.) „Im nächsten Moment war er überrascht, dass Joe sich Hals über Kopf davonmachte, anstatt ihm den Hals abzuschneiden, wegen seiner Aussage vor Gericht. Der Widerhall muss wohl meine Stimme unkenntlich gemacht haben, dachte er. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und kehrte zur Quelle zurück. Becky erzählte er nichts von seinem Zusammentreffen. Er sagte nur, er habe es auf gut Glück noch einmal mit einem Ruf versucht. … Nach langem Schlaf schlug er vor einen anderen Gang zu versuchen. Aber Becky war zu schwach. Sie nahm ihm das Versprechen ab, dass er ab und zu zurückkehre, um nach ihr zu sehen. Und wenn dann die Todesstunde gekommen sei, dann solle er ganz nahe bei ihr sitzen und ihre Hand halten. Tom küßte sie zärtlich und hatte dabei ein Gefühl, als müsse er ersticken. Aber er zeigte seine Angst nicht, sondern redete zuversichtlich auf das Mädchen ein. Dann nahm er seine Drachenleine und kroch auf Händen und Füßen davon, von Hunger gequält und von trüben Ahnungen beschwert.“

Doch trotz seiner trüben Ahnungen findet Tom zufällig einen Ausgang aus der Höhle. Er ist wieder einmal der Held des ganzen Städtchens. Seine Dummheit verzeiht man ihm, da man froh ist, ihn wieder gefunden zu haben (Übrigens: Heutzutage sind Versicherungen und Rettungsdienste an ganz andere Aufregungen gewöhnt, nur durch die glückliche Rettung eines Menschleins verzichten die noch lange nicht auf ihr wohlverdientes Bares). Und die ganze Geschichte stimmt genau so, wie sie hier abgedruckt war, denn sie steht auch schwarz auf weiß in: Tom Sawyer Huckleberry Finn, in der deutschen Bearbeitung von Rudolf Herrmann, erschienen im Spectrum Verlag Stuttgart 1976.

Ich habe Euch jetzt über die Höhlenabenteuer von Tom Sawyer berichtet und nun stellt sich für uns als wißbegierige Höfos die Frage: Gibt es die Höhle, in der Tom Sawyer und Becky beinahe ihr frühes Ende fanden, wirklich?

Ein paar Recherchen im Internet ergaben Kontakt zu auskunftswilligen amerikanischen Höfos, so dass sich diese Frage mit einem klaren „Ja!“ beantworten lässt. Jedenfalls gibt es eine Höhle, deren Lage den Beschreibungen in Twains Buch ziemlich genau entspricht. Nahe der Stadt Hannibal, im Osten des Bundesstaates Missouri, in der der Schriftsteller Mark Twain seine Kindheit verbrachte, liegen zwei Höhlen, die heute touristisch erschlossen sind: Die Cameron Cave und die Mark Twain Cave. Beide Höhlen sind – ganz wie die McDougal’s Höhle aus dem Buch – als verwinkelte Labyrinthe entwickelt, in denen sich wohl ein neugieriger Mensch verirren kann. Zwar sind beide Höhlen nicht so feucht und reich versintert, wie jene aus dem Roman, aber man muss diesbezüglich wohl annehmen, dass die künstlerische Freiheit und die verklärten Jugenderinnerungen der Höhle in der Literatur zu einem wesentlich besseren Aussehen verhalfen, als in der Wirklichkeit.

Rußspuren und Werkzeugreste zeigen an, dass schon die indianische Urbevölkerung die Mark Twain Cave kannte und als Zuflucht benutzte. Im Winter 1819/20 entdeckten bei einer Pantherjagd die Brüder Sims als erste Weiße die Höhle und schon kurze Zeit später folgten die ersten Erforscher. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm ein Zeitgenosse Mark Twains, der am Rande des Wahns wandelnde berühmte Chirurg McDowell (die Ähnlichkeit mit dem von Twain gewählten Phantasienamen für die Höhle, McDougal, ist offensichtlich), den Versuch, den Körper seiner 14- jährigen Tochter in einem mit Alkohol gefüllten Kupferzylinder in dem trockenen Höhlenklima zu mumifizieren. Resultat war, dass das makabere Experiment Horden von Touristen in die Höhle lockte, die mit dem toten Körper allerlei derben Schabernack trieben. Die Metallhaken, mit denen der Zylinder aufgehängt war, wurden noch Jahre später in der Mark Twain Cave gezeigt. Noch einen berüchtigten Mann zog die Höhle an: Am 22. September 1879 verewigte sich Jesse James mit seiner Signatur an der Höhlenwand.

Heute sind die beiden Höhlen Cameron Cave und Mark Twain Cave mit elektrischer Beleuchtung und gemauerten Wegen versehen und seit 1972 als Naturdenkmal geschützt.

In den 1830er Jahren zog die Familie Clemens nach Hannibal, deren Sohn Samuel Langhorne Clemens später unter dem Pseudonym Mark Twain (1835- 1910) schriftstellerischen Weltruhm erlangte. In den 40er und 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dürfte er, wie viele andere Jugendliche aus seiner Stadt, auf Entdeckungsfahrt in die später nach ihm benannte Höhle aufgebrochen sein. Er schrieb in seiner Autobiographie dann auch tatsächlich:

„Ich habe mich selbst in Begleitung einer Dame in ihr verirrt und unsere Kerzen brannten fast vollständig herunter, bevor wir das Licht eines Suchtrupps erspähten, der sich in der Ferne wand.“

Man sieht, dass ganz offensichtlich auch Tom Sawyers Höhlenfahrt einen realen Hintergrund hatte, den Twain später in seinem Roman verarbeitete. Auch der schurkische Indianer-Joe, den wir aus dem Buch kennen und der in der fiktiven Handlung den Hungertod in der Höhle starb, war eine reale Person, sofern wir Twains Biographie Glauben schenken dürfen. Der „echte“ Joe aber überlebte die Irrfahrt in der Höhle, indem er Fledermäuse fing und verzehrte.

Aus Twains Autobiographie ist uns aber überliefert, dass er als Heranwachsender die Höhle oft besuchte, ja dass er sogar seine Mutter mit mitgebrachten Fledermäusen zu erschrecken pflegte.

Jedenfalls ist es heute eine Schauhöhle, die mit dem Namen von Mark Twain ziemlich bekannt geworden ist. An Besucher ist die Höhle schon gewöhnt gewesen, denn das im Buch beschriebene Picknick gründet sich auf zahllose historische Vorlagen, wie es die zahlreichen Rußflecken an den Höhlenwänden heute noch belegen. Twain war übrigens später nochmal dort, denn dem Buch „Adventures in Mark Twain Cave“ von H. Dwight Weaver kann man entnehmen, dass sich Mark Twain, Tom Sawyer und Becky Thatcher in das Besucherbuch eintrugen.

Für die ausführlichen und freundlichen Auskünfte, die diesen Artikel ermöglichten, danke ich herzlich: Blaze Cunningham, John Lyles, Mark Minton, Ethan Scarl, und Jo Schaper sowie der Verwaltung der Mark Twain Cave, die mir den Höhlenplan und einen kleinen Höhlenführer überließ, der demnächst der Vereinsbibliothek einverleibt wird.

Literaturhinweise

Bogart, R.C. (o.J.): A visit to Mark Twain Cave and Mark Twain Country.- Hannibal. [Broschüre der Schauhöhlenverwaltung].

Bretz, J.H. (1956): Caves of Missouri.

Weaver, H.D. & Johnson, P.A. (1980): Missouri, the Cave State.